Lern mich kennen



Es gibt eine Stunde in der frühen Morgenzeit, da die Welt noch ruht, die Luft kühl und klar ist, und
die Seele ihre leiseste Stimme erhebt. Oft erwache ich um diese Stunde, wenn die Dämmerung den Himmel nur zaghaft berührt, als wolle sie die Nacht nicht stören. Kein Wecker ruft mich, es ist mein Innerstes, das mich weckt, mein Herz, das mich in diese Stille ruft. Doch wie widersprüchlich ist dies Erwachen! Kaum bin ich bei mir, ergreift mich ganz klar, dass mich eine schwere Müdigkeit befallen wird, eine Last, die sich aus der Fremdheit speist, unter Menschen zu sein, die meine
wahre Natur weder kennen noch schätzen würden. Ich brauche gar nicht zu versuchen, zu entkommen, sie holt mich immer ein.
Es ist, als trüge ich ein Geheimnis mit mir, eines, das selbst die Ahnungslosen spüren. Sie riechen es, diese Andersartigkeit, die sie verstört, die sie an die Unbequemlichkeit der Wahrheit erinnert.
Denn sie ahnen, dass es nicht diese eine, einfache Wahrheit gibt, die sie so sorgsam wie ein brüchiges Gefäß hüten.
Wenn ich also in diesen Stunden erwache, bin ich bereit, etwas zu schaffen, etwas von Bedeutung.
Doch wohin soll mich mein Tatendrang führen, wenn die Welt, die meinem Wesen entspricht, so fern liegt? Es ist, als sei ich stets unterwegs, ohne zu wissen, wohin.
Ich denke oft an die Menschen um mich, jene, die eine Fehlentscheidung nach der anderen treffen und deren Wege doch auch die meinen beeinflussen. Als Mitglied dieser Gesellschaft,  trage ich die Bürden ihrer Entscheidungen wie ein Kreuz vor
mir her, ob ich will oder nicht. Ich der Eine von hundert, der, der die
Hände über dem Kopf zusammenschlägt und sich fragt, wie die anderen es fertigbringen, nicht zu ahnen, was sie da tun. Diese blinde Gewissheit, dieser offensichtliche Mangel
an Reflexion – es ist wie ein Schleier, der sie vor sich selbst schützt, während ich spüre, wie er mich
erstickt. Warum ich das denke? Ich höre jeden Tag nur Klage, dass andere den Karren in den Dreck
fahren und man nicht anders konnte, als zusehen zu müssen.

Doch was mich am meisten schmerzt, ist der Verlust, der so früh begann. Als Kind durfte ich nicht
sein, wer ich war. Meine Natur wurde gebogen, gedrängt, gefügig gemacht. Ich wuchs inmitten von
Menschen auf, die anderen das Schmieden ihres Glücks überließen, Menschen, die Regeln
befolgten, die sie nicht verstanden, die erschöpft und kraftlos dalagen, gefangen in einer Welt, die
keine Farben duldet.
„Das haben wir schon immer so gemacht“, sagten sie, und ihre Stimmen klangen wie Ketten, die um
meine jungen Glieder gelegt wurden. Ich wäre gerne meines eigenen Glückes Schmied geworden,
hätte es mit Eifer gelernt und ein Licht in die Welt getragen, in der alle Farben ein Zuhause finden.
Aber sie verbrachten so ihr Leben: mit Pflichterfüllung, mit Essen, mit Ausruhen, mit Luftholen vor
dem nächsten Sprung, mit ein wenig Befriedigung, mit dem Lösen von TV-Verbrechen, mit profanem Zeitvertreib als Voyeur, mit Warten, mit Ausharren, bis endlich eine Diagnose kommt, die sie von
allem erlöst (wenn es denn keine Religion  vermag), und sie befreit von einem Dasein,
das, trotz aller Mühen, nicht mit Leben zu füllen war.
Heute, als Erwachsener, suche ich nach diesem Kind, das ich damals war. Ich gebe meine Energie
aber nicht her für Therapien, für Kurse, für Bücher, die mir versprechen, mich zu mir selbst
zurückzuführen, die mich wieder in die Spur bringen wollen, die mir so sehr Schmerzen bereitet.
Denn, wie soll ich etwas finden, das ich nie wirklich gekannt habe? Wie soll ich suchen, wenn ich
nicht weiß, wo ich beginnen soll?
Vielleicht liegt die Antwort in den stillen Stunden des Morgens, in der Verbindung zur Erde, zu den
Bäumen, zum Wind. Vielleicht sind es nicht die großen Lehren, sondern die einfachen Wahrheiten
der Natur, die uns zu uns selbst zurückführen. Vielleicht finde ich das Kind, das ich war, wenn ich
vergesse, zu suchen, und stattdessen lerne, zu sein. Ich höre nicht mehr auf die Lehren derer, die die Freiheit nicht kennen.

Lern mich kennen

Michael